Wir sind das Volk.
Das Volk stimmt an der Wahlurne, manchmal mit den Füßen und ab und zu auch mal mit Demos gegen ein Unrechtsregime ab (liegt allerdings schon 20 Jahre zurück). Und ähnlich selten stimmen Bürgerinnen und Bürger in ganz Ba-Wü bei direkten Sachentscheidungen ab, in einem Volksentscheid. Ist das seltene Vorkommen nun gut oder schlecht?
Aktueller Anlass für dies Frage ist natürlich Stuttgart 21. Dazu will ich vorausschicken: Seit Jahren verfolge ich die Planungen für die Tieferlegung des Hbf in Stutgart und die neue Schnellbahnstrecke nach Ulm. Ich habe die Kostenentwicklung verfolgt, alle möglichen Zahlen zu Fahrzeitgewinnen oder Kapazitäten undundund gelesen. Die oberirdischen Alternativen zu S21 habe ich zur Kenntnis genommen. Andere geplante neue Schienenwege in Deutschland sind mir nicht unbekannt. Und trotz alledem, trotz besserer Informationslage als beim Durchschnittsbürger: Ich könnte heute nicht guten Gewissens den Daumen zu S21/Ba-Wü21 heben oder senken, etwa bei einem Volksentscheid. Thema zu komplex.
Damit sind wir mittendrin in der Problematik. Frage 1: Was soll ein Volksentscheid bei so einem Thema lösen, was repräsentative Demokratie nicht lösen kann? Frage 2: Gilt nach einem Volksentscheid wieder “Baden-Württemberg – einig Bundesland”? Frage 3: Wer sollte zu so einem Projekt mit internationaler Bedeutung entscheiden dürfen?
Zu Frage 1: Natürlich kann ich von einem so komplexen Thema nicht erwarten, dass jeder Abstimmende in einem Volksentscheid so gut Bescheid weiß, wie ein Entscheider in Parlament und Verwaltung. Dafür hat er oder sie den Vorteil der Unbefangenheit, des fehlenden Fraktions- oder Parteizwangs. Letztlich wird die Entscheidung durch Volksentscheid aber weder “besser” noch “richtiger” sein. Wahrscheinlich emotionaler begründet, egal in welche Richtung sie ausfällt. Gelöst ist das Problem unterschiedlicher Bewertung von Fakten jedenfalls nachher nicht.
Zu Frage 2: Leider gehen Bürger- oder Volksentscheide selten 90:10 aus. Meistens eher 55:45 oder gar nur 51:49. Sind dann nach dem Entscheid die Fronten aufgeweicht, haben sich wieder alle lieb? Von wegen, siehe Bürgerentscheid Kombilösung. Da wird von den Verlierern (sind die überhaupt “Verlierer”?) der Werbefeldzug der Gegenseite kritisiert, die falsche Fragestellung, der Abstimmungstermin, die vermutete Unehrlichkeit der Argumente. Das würde die Gegenseite auch so halten, wenn sie verloren hätte. Man muss nur mal in die europäische Zentrale der direkten Demokratie, die Schweiz schauen: Glücklicher sind die SchweizerInnen nicht und friedlicher als wir gehen sie auch nicht miteinander um.
Zu Frage 3: Wenn das Verwaltungsgericht Stuttgart einen Bürgerentscheid über Stuttgart 21 zugelassen hätte, dann hätten die BürgerInnen der Landeshauptstadt über die Zukunft der Schienenmagistrale für Europa – von Paris nach Budapest etc. – entschieden. Ähnlich die Problemlage bei einem Volksentscheid: Da kann ein Oberschwabe aus dem Allgäu Einfluss auf den Nah- und Fernverkehr in der Region Stuttgart nehmen. Transnationale Europäer-Entscheide gibt es nicht – aber wäre es nicht korrekter, alle Anlieger der Magistrale für Europa entscheiden zu lassen? In “la douce France! übrigens nahezu undenkbar: Die sonst so streitbaren Franzosen – man denke an Streiks – lassen von Paris alles entscheiden; TGV-Trassen nehmen wenig Rücksicht auf lokale Befindlichkeiten.
Was nun: Deutschland – einig Volksentscheid? Wir sind doch das Volk. Aber sind wir ein “einig Volk” nach dem Entscheid? Geht es uns dann besser?
Übrigens: Gefühlsmäßig hätte ich mich vor 15 Jahren, bei der Festlegung auf S21, dagegen und für eine oberirdische Lösung entschieden, hätte man mich gefragt. Heute lautet die eigentliche Frage aber ganz anders: Sollen 20 Jahre Planung samt deren Kosten in die Tonne, weil es angesichts beschränkter Kassen wichtigere Schienenverkehrsprojekte in Deutschland gibt? Die Frage “Umbau Stuttgart-Hbf samt Zulaufstrecken und Anbindung an Ferntrassen – ja oder nein” kann man stellen, auch jetzt noch. Nur ich kann sie bei bestem Willen nicht entscheiden.